Historische Einordnung:
Man könnte beinahe meinen, die Frage nach einer „evangelisch“ – will sagen: alttestamentlich – begründbaren Doppelehe habe sich wie ein roter Faden durch das Verhältnis zwischen Landgraf Philipp von Hessen und Luther gezogen. Bereits bei ihrem ersten Zusammentreffen auf dem Wormser Reichstag 1521, als der Landgraf den gebannten Mönch, dem er Geleit für die Rückreise durch Hessen zusagen sollte, mehr aus Interesse als Sympathie aufsuchte, habe er ihn gefragt, ob es richtig sei, dass er lehre, dass sich eine Frau einen anderen Mann nehmen könne, wenn dieser im Alter seine Ehepflichten nicht mehr erfüllen könne. So berichtet Luther in seinen Tischreden, gleich an drei verschiedenen Stellen. Philipps Frage bezog sich wohl auf einen Witz, der in Fürstenkreisen kursierte. Aber auch in einem der allerersten Briefe Luthers an den – nun evangelischen – Landgrafen ging es um dasselbe Thema (diesmal in umgekehrter Perspektive), ob Männer mehr als eine Ehefrau nehmen dürften (und wie sich die Obrigkeit dazu verhalten sollte). Luther widerriet, grenzte die Möglichkeit wenigstens auf den allergrößten Notfall ein.
1539, als Philipp im Dilemma stand zwischen der aus dynastischer Räson rechtsgültig geschlossenen Ehe, seiner Liebe zur Tochter der Hofmeisterin seiner Schwester, Margarete von der Sale, und der alltäglichen Promiskuität, von der sein Leben auch bestimmt war, stellte er die Frage nun allen Ernstes und auf sich selbst bezogen: Darf er mit Margarete eine zweite Ehe eingehen? Denn er liebe seine Frau nicht, treibe Hurerei, wage nicht, das Abendmahl zu empfangen, und müsse deshalb befürchten, der ewigen Verdammnis anheimzufallen. Auf das alles wolle er verzichten, indem er einen von Gott zugelassenen Weg beschreite: den der Doppelehe. Denn er habe eifrig in der Bibel gelesen und gefunden, dass die großen Gestalten des Alten Testaments mehr als eine Frau gehabt hätten und dass im neuen Testament an keiner einzigen Stelle ein Verbot dieser Praxis stehe. Das war nun kein Witz mehr wie 1521 und auch keine theoretische Erörterung wie 1526, sondern stand in einer Instruktion, mit der er Martin Bucer 1539 nach Wittenberg sandte, um Luther und Melanchthon ihre Zustimmung zu eben diesem Ausweg abzuringen.
Die Antwort lässt erkennen, dass die Wittenberger Reformatoren nicht erfreut waren über die Angelegenheit und über den Zeitdruck, unter dem zu entscheiden war. Nur um Bucer nicht mit leeren Händen fortreiten zu lassen, reagierten sie überhaupt. Zu ihren Beweggründen ist Folgendes zu sagen: (1) Exegetisch hatte Philipp recht: Aus dem Alten Testament geht eindeutig hervor, dass die Bigamie bei den Patriarchen und Königen Israels gängige Praxis war, und im Neuen Testament fehlt ein ausdrückliches Verbot (weil die Frage gar nicht zu erörtern war). (2) Durch den Verlust des sakramentalen Charakters der Ehe und die Aufgabe des kirchlichen Eherechts hatte die Frage nach der Polygamie im Alten Testament, die zuvor immer wieder einmal im Diskurs der Gelehrten erörtert worden war, plötzlich eine unerwartet aktuelle Dimension bekommen. Auch Luther hatte sich, wie eingangs erwähnt, mehrfach dazu äußern müssen. (3) Luther, der an der Unauflöslichkeit der Ehe gemäß dem biblischen Scheidungsverbot (Matthäus 19, 6–9) entschieden festhielt, hatte bereits im Fall König Heinrichs VIII. von England dahingehend argumentiert, dass eine Ehe mit zwei Frauen im Notfall besser sei, als eine Frau ins Elend (oder im Fall Heinrichs gar aufs Schafott) zu schicken. Der Landgraf hatte sich auf dieses Votum berufen. (4) Das Konkubinat war unter Fürsten allgegenwärtig und von der alten Kirche geduldet. Philipp äußerte später provokant, wenn sich Kurfürsten und Fürsten von ihren Konkubinen trennen würden, wolle er das auch tun. (5) An Philipps Absicht, eine verzwickte Situation einer ehrlichen Lösung zuzuführen, war nicht zu zweifeln. Demgegenüber stand die Ungeheuerlichkeit der Idee selbst: Die Einehe war (und ist) in dem aus griechisch-römischen Traditionen erwachsenen mitteleuropäischen Eheverständnis und Eherecht fest verankert und gerade durch das Christentum durchgesetzt worden. Ein Abweichen davon musste zwangsläufig Skandal erregen.
Landgraf Philipp hatte in seiner Instruktion für Bucer zunächst den Wunsch geäußert, die Wittenberger möchten durch Predigt und den Druck für öffentliche Akzeptanz der Bigamie sorgen. Wenn das nicht möglich sei, sollten sie ihm wenigstens bestätigen, dass eine solche Ehe rechtens sei und darauf sinnen, wie man Aufsehen vermeiden und die Ehre seiner Zweitfrau wahren könne. Es war wohl Bucer, der diese Argumentation in die Richtung von Beichte und Dispens gelenkt hatte: Denn die Beichte musste auf eine individuelle Gewissensnot reagieren und die Zusagen, die sie machte, blieben unter dem Siegel der Verschwiegenheit verborgen. Die Wittenberger Theologen nahmen diesen Faden auf und erstellten ihr Gutachten, mit dem sie die gewünschte Zustimmung erteilten, in der Form eines „Beichtrats“. Das ganze Gutachten ist von der Sorge durchzogen, der Landgraf könnte die Bigamie durch ein allgemeines Gesetz zulassen und betont deshalb immer wieder den Zusammenhang von Gesetz und Dispens: Eine allgemeine Erlaubnis der Polygamie wird strikt abgelehnt, zugleich der Weg zu einer geheimen Dispensation als Ausnahme von einem allgemeingültigen Gesetz eröffnet. Dass sich Luther auf die altkirchliche Praxis des Dispenses einließ, ist wohl aus dem Gedanken heraus zu erklären, dass es seelsorgerische Notsituationen gab, die man alleine Gott befehlen konnte. Melanchthon verfasste das Schreiben. Seine originale Ausfertigung wird im Staatsarchiv Marburg aufbewahrt; ein Konzept ist im Landeshauptarchiv Sachsen-Anhalt, Abteilung Dessau erhalten. Obwohl also Melanchthon nur abschrieb, verschrieb er sich mehrfach, strich ganze Wörter aus, um sie wieder neu zu setzen; auch das ein Zeichen von Eile und Nervosität.
In Hessen wurde der „Beichtrat“ sehr genau gelesen. Schon ein flüchtiges Durchblättern des Heftes zeigt, dass ab Blatt 22v eine Hand (wohl die des Landgrafen selbst) am Rand nahezu alle Absätze angestrichen hat und unbeholfen eine Zeigehand (manchmal eher wie eine gekippte fünfzackige Krone aussehend) hinzugesetzt hat, um auf die Bedeutung des Inhalts hinzuweisen. Auf diesen Seiten stehen die Kernaussagen des Beichtrats, die auch hier herausgegriffen wurden. Auf den vorangehenden Seiten werden sie argumentativ sorgfältig vorbereitet: Die Reformatoren danken zunächst Gott dafür, dass der Landgraf wieder genesen ist (er selbst glaubte, an der Syphilis erkrankt zu sein, was nicht wahrscheinlich ist, aber in der ganzen Angelegenheit eine nicht unwichtige Rolle spielte). Dann kommen sie auf die von ihm gestellte Frage zu sprechen: Die Ehe sei von Gott als Verbindung zwischen Zweien gestiftet (Genesis 2, 24: Erunt duo in carne una – Es sollen zwei Personen [Mann und Frau] ein Fleisch sein) und von Christus bestätigt worden (Matthäus 19,5). Die Praxis im Alten Testament sei nur eine geduldete Gewohnheit gewesen. Damit wird der etwas schlichte Biblizismus des Landgrafen theologisch eingeordnet und zurechtgerückt. Dennoch bestätigen sie, dass eine solche Duldung in Ausnahmefällen nach wie vor möglich sei. Der Landgraf solle aber auf jeden Fall vermeiden, dass die Sache öffentlich werde, damit es keine Nachahmer gäbe, und um den Gegnern keinen Anlass zu Polemik zu geben, etwa in dem Sinne, dass die Evangelischen jetzt wie die Täufer (in Münster) die Vielweiberei propagierten. Der Landgraf wird scharf ermahnt, sein Leben zu bessern und mit dem Ehebruch aufzuhören, auch das gehörte zu dem Beichtrat, der nicht nur Bewilligung, sondern auch Ermahnung beinhaltete (Bl. 24v), dazu: Hurerei solle er nicht auf die leichte Schulter nehmen, denn sie sei von Gott noch immer „greulich“ bestraft worden. Der Landgraf möge sich mit (s)einer Frau begnügen, die ihm schöne Kinder geschenkt habe, wie auch andere ihren Ehestand ertrügen, denn sie, die Theologen, wollten ihn nicht dazu ermuntern, „beschwerliche“ Dinge einzuführen, wie überhaupt alle Welt die Prädikanten kritisiere. Erst nach diesen grundsätzlichen Erwägungen nimmt die Argumentation eine Wendung und willigt in die zweite Verbindung ein. Aber sie soll geheim bleiben, um keinen Anstoß zu erregen, genauer gesagt auf Philipp und seine (Zweit)Frau und „etliche vertraute Personen“ beschränkt bleiben. Da die Instruktion Bucers relativ unverhohlen damit gedroht hatte, sich an Kaiser und Papst zu halten, wenn die Wittenberger ihre Zustimmung versagten, bemüht sich das Gutachten zum Schluss, den Landgrafen von einer Annäherung an den Kaiser abzubringen. Dieser Absatz wird von der Forschung allgemein Martin Luther zugeschrieben, der seit ihrer Begegnung 1521 wenig Grund hatte, Karl V. mit Sympathie zu begegnen. Er griff deshalb tief in die Kiste der reichsständischen, nationalen, antihabsburgischen Polemik.
Nach der Übersendung des Gutachtens nach Hessen wurde es von den wichtigsten Theologen, die mit dem Landgrafen in dieser Sache konform gingen, beglaubigend unterzeichnet. Am 4. März 1540 fand in Rotenburg an der Fulda die Einsegnung der Verbindung durch Dionysius Melander statt. Am nächsten Tag übergab Melanchthon dem Landgrafen eine Erklärung, in der er ihn einmal mehr aufforderte, die Angelegenheit geheim zu halten, die Doppelehe nicht etwa allgemein einzuführen und die öffentliche Diskussion darüber zu vermeiden.
Der Landgraf, der das Gutachten so intensiv las, konnte seine Bitte darin aber eigentlich nur zum Teil bestätigt finden: In entscheidenden Punkten blieb es vielmehr auffallend vage: Über Form und Qualität der zweiten Ehe schweigt es sich aus und verweist nur auf den Entschluss des Landgrafen „noch ein Eheweib zu haben“. Als Melanchthon nach Rotenburg reiste, wurde er deshalb von der förmlichen Eheschließung regelrecht überrumpelt.
Die „Sollbruchstelle“ (Breul) des gefundenen Konsenses war die Geheimhaltung: Während die Familie von der Sale die Öffentlichkeit der Ehe einforderte und Philipp daran gelegen war, aus der Heimlichkeit einer Nebenverbindung auszubrechen und in einer von Gott gesegneten Verbindung zu leben, hatten Luther und Melanchthon ihre Zustimmung nur unter der Maßgabe erteilt, dass die Ehe geheim gehalten und nach außen hin als Konkubinat ausgegeben würde. Dass sich der Landgraf damit keine besondere Mühe gab, widersprach daher in ihren Augen ihrem Ratschlag. Aber es war natürlich sehr naiv zu glauben, die breiten Massen würden nichts davon erfahren, und die Klugen würden sich ihren Teil dabei denken. Der Kreis der Mitwisser wurde zwangsläufig größer und schließlich wurde die Doppelehe zu einem politischen Skandal, der von Philipps Gegnern, allen voran die Herzöge Heinrich II. von Braunschweig-Wolfenbüttel und Heinrich von Sachsen, ausgekostet wurde und damit dem Protestantismus schweren Schaden zufügte, weil er das Kräfteverhältnis im Reich, von dem seine Aufrechterhaltung abhängig war, erschütterte. Politisch isoliert, sah sich Philipp zu einer erneuten Annäherung an den Kaiser gezwungen, die auf dem Regensburger Reichstag erfolgte und in den Geheimvertrag von 1541 mündete. Die Kontroverse über die gegebene oder nicht gegebene Zustimmung zu der Doppelehe wurde mit Luther und Melanchthon öffentlich ausgetragen und führte ebenso zu einer Entfremdung zwischen ihnen, wie zwischen Luther und Bucer, dem Überbringer des Wunsches. Die Frage nach der biblisch begründeten Bigamie blieb als ein unheilvolles Kapitel zwischen dem bibelfesten Landgrafen und dem Wittenberger Theologen bestehen.
Literatur:
Ernst Braune, Die Stellung der hessischen Geistlichen zu den kirchenpolitischen Fragen der Reformationszeit. Diss. theol. Univ. Marburg 1932, S. 149–184.
Wolfgang Breul, „Mit gutem Gewissen“. Zum religiösen Hintergrund der Doppelehe Landgraf Philipps von Hessen. In: Zeitschrift für Kirchengeschichte 119, 2008, S. 149–177.
Stephan Buchholz, Die Doppelehe des Landgrafen. In: Ursula Braasch-Schwersmann/Hans Schneider/Wilhelm Ernst Winterhager(Hrsg.), Landgraf Philipp der Großmütige (1504–1567). Hessen im Zentrum der Reform. Begleitband zu einer Ausstellung des Landes Hessen. Marburg-Neustadt a.d. Aisch 2004, S. 113–116.
Stephan Buchholz, Philippus Bigamus. In: Rechtshistorisches Journal 10, 1991, S. 145–159.
Hessen und Thüringen – Von den Anfängen bis zur Reformation. Eine Ausstellung des Landes Hessen. Wiesbaden 1992, S. 308, Nr. 558 a (Fritz Wolff).
Paul Mikat, Die Polygamiefrage in der frühen Neuzeit. (Rheinisch-westfälische Akademie der Wissenschaften. Geisteswissenschaften, Vorträge G 294.). Opladen 1988.
William Walker Rockwell, Die Doppelehe des Landgrafen Philipp von Hessen. Marburg 1904.
Heinrich Steitz, Die hessische Vertretung auf dem Reichstag. In: Fritz Reuter (Hrsg.): Der Reichstag zu Worms 1521. Reichspolitik und Luthersache, im Auftrag der Stadt Worms zum 450-Jahrgedenken.Worms 1971, S. 399–414.
Fritz Wolff, Luther und Landgraf Philipp im Spiegel der „Tischreden“. In: Hessisches Jahrbuch für Landesgeschichte 43, 1993, S. 19–38.
Nachweis früherer Editionen:
Heinz Scheible/Christine Mundhenk (Hrsg.), Melanchthons Briefwechsel, Regesten Bd. 2, bearb. von Heinz Scheible, Stuttgart- Bad Cannstatt 1978, S. 483 f.; Texte Bd. 8, bearb. von Christine Mundhenk, Heidi Hein und Judith Steiniger, Stuttgart- Bad Cannstatt 2007, S. 642–650, jew. Nr. 2326 (1539 Dez 10, Wittenberg). (Vgl. Nr. 2317–2318, S. 480 f./624–632: Instruktion für Butzer [1539 {November 30, Melsungen}].)
D. Martin Luthers Werke. Kritische Gesamtausgabe, [Abt. 4:] Briefwechsel, Bd. 8, bearb. von Otto Clemen. Weimar 1938, Nr. 3423, S. 638–644.
Heinrich Heppe, Urkundliche Beiträge zur Geschichte der Doppelehe des Landgrafen Philipp von Hessen. In: Zeitschrift für die historische Theologie 22, 1852, S. 263–283, hier S. 266–270, Nr. II.
Karl Gottlieb Bretschneider (Hrsg.), Philippi Melanthonis Opera quae supersunt omnia, Bd. 3 (Corpus Reformatorum, Bd. 3.) Halle 1836, Sp. 856-863.
Johann Backmeister (Bacmeister), Acta Philippica. Sive: Theologorum Saxonicorum & Legatorum Megapolensium frustra tentata Pacificatio Inter Philippum Melanchthonem & Matthiam Flacium Illyricum [...]. Tübingen 1719, S. 91–96 [ungenau].
Hieronymus Brückner (Bruckner), Decisiones iuris matrimonialis controversi, Quibus tam ea, quae per proximos Triginta & amplius Annos de Causis Matrimonialibus inter Eruditos variis Scriptis pro & contra disputata sunt [...], Frankfurt-Leipzig: August Boëtius, 1692, Teil 1, S. 501–505, ad Caput XIV [ungenau].